Ein Blick in die Zukunft der Seefahrt
Am 25. Juni ist der internationale Tag der Seeleute, an dem – je nach Sichtweise – der Beitrag der Schifffahrtsindustrie zur Weltwirtschaft oder der Beitrag der arbeitenden Männer und Frauen in der Schifffahrtsindustrie gewürdigt wird.
Es mag Haarspalterei sein, aber ich vermute, dass alle Seeleute, die nicht in der Lage sind, das Schiff zu wechseln, von Bord zu gehen oder mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben, diese gut gemeinte Idee als eine ziemlich leere Geste ansehen würden.
Für Seeleute stand selten so viel auf dem Spiel wie jetzt zur Mitte des Jahres 2022. Der Krieg in der Ukraine fordert einen neuen Tribut für die persönliche Sicherheit, die Lockdowns in China dauern an und die Anschuldigungen wegen schwerwiegenden Fehlverhaltens und Belästigung beherrschen weiterhin die Schlagzeilen.
In einem Versuch, der Öffentlichkeit die Probleme zu verdeutlichen, mit denen Seeleute heute konfrontiert sind, hat das Versicherungs- und Risikomanagementunternehmen Allianz Global zwei Kapitäne eingeladen, über die Veränderungen zu sprechen, die die Branche seit ihrer Zeit auf See durchlaufen hat. Rahul Khanna ist unseren Leserinnen und Lesern bereits bekannt: Er hat einen Bericht über Führung auf der Brücke geschrieben, während Nitin Chopra auf über 20 Jahre Erfahrung in der Schifffahrtsindustrie auf Bulkern und Tankern zurückblicken kann.
Heute sind die beiden Risikoberater bei der Allianz. Was waren jedoch die größten Herausforderungen, denen sie als Kapitäne großer Schiffe gegenüberstanden?
Beide sind sich einig, dass das Leben auf See hart ist. Es sei eher mit der Arbeit in einem komplexen industriellen Umfeld vergleichbar als mit einem normalen Arbeitsplatz, mit ähnlichen Gesundheits- und Sicherheitsbedenken wie in einer Fabrik oder sogar im Bergbau. „Es gibt jedoch Probleme, die speziell für Seeleute zutreffen, wie zum Beispiel die Trennung von Freunden und Familie“, so Khanna. „Besatzungen können zwischen einem Monat und einem Jahr an Bord eines Schiffes sein, wo sie in einer risikoreichen Umgebung arbeiten, ohne die Unterstützung ihrer Angehörigen. Ich erinnere mich, dass ich als Praktikant mit einem mageren Gehalt 10 US-Dollar pro Minute bezahlen musste, um über Satellit nach Hause zu telefonieren.“
Chopra ist der Meinung, dass der Begriff „Leben auf See“ irreführend ist: Seeleute kehrten am Ende eines Tages schließlich nicht in ihr normales Leben zurück. Außerdem brauche es einen starken Willen, um eine Karriere in der Seefahrt zu machen. „Ein Problem, das ich immer wieder als Herausforderung empfand, war die begrenzte Anzahl der Arbeitskräfte an Bord und die Notwendigkeit, die vorgeschriebenen Ruhezeiten für die Besatzung einzuhalten, ohne die Betriebssicherheit des Schiffes zu gefährden“, erklärte er.
Die potenzielle Kriminalisierung von Seeleuten sei kein neues Phänomen – Khanna erinnert sich an den Stress bei der Bearbeitung von Unfällen in Häfen, wo das Gewicht des Gesetzes eine ständige Bedrohung darstellt. Chopra ergänzt jedoch noch, die größte Veränderung gegenüber der Zeit, als er zur See fuhr, sei der alltägliche Zeitdruck.
Chopra zufolge haben die Fortschritte in der Technologie und die zunehmende Automatisierung in den Frachtterminals die Umschlagzeiten verkürzt, allerdings führten kürzere Hafenaufenthalte zu einer höheren Belastung der Besatzung, da es einen Landgang praktisch nicht mehr gebe.
„Die Digitalisierung hat natürlich die Sicherheit und die Effizienz verbessert, aber die neuen Technologien erfordern eine schnellere Fortbildung von Seeleuten als bisher“, fügte er hinzu. „Schiffe arbeiten jetzt in einem verschärften regulatorischen Umfeld und in einer zunehmend instabilen geopolitischen Landschaft.“
Seeleute seien schon immer Kollateralschäden in Konflikten gewesen, und das habe sich auch durch die Ukraine-Krise nicht geändert, so Khanna. Aber das Modell der Piraterie sei mit Sicherheit gefährlicher geworden, da bewaffnete Banden bereit seien, die Besatzung auszurauben, das Schiff zu plündern und die Fracht zu stehlen, und das alles mit mehr Gewalt.
Die Einführung von Internet und Breitband an Bord habe es für Seeleute einfacher gemacht, mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben, und beide Männer sehen hier eine positive Veränderung. Khanna saß einmal wegen Staus und schlechtem Wetter vor einem Hafen in Argentinien fest. Da er keine Möglichkeit hatte, seine Verlobte zu kontaktieren, musste er eine Fahrt auf einem Lastkahn an Land erbetteln, ein Telefon finden und ihr versichern, dass er wegen der bevorstehenden Hochzeit keine kalten Füße bekommen hatte.
Angesichts des enormen Beitrags der Schifffahrtsindustrie und der Seeleute zur Weltwirtschaft ist es angesichts des Fachkräftemangels in der Branche unerlässlich, die Attraktivität des Berufs durch verbesserte Arbeitsbedingungen zu erhöhen. Keiner von beiden ist der Meinung, dass die Art und Weise, wie die Branche die Seeleute während der Pandemie behandelt hat, eine besonders gute Werbung ist.
„Geschichten von Besatzungen, die monatelang an Bord von Schiffen festsitzen, haben das Image der Schifffahrt nachhaltig beschädigt“, erklärte Khanna. „Einige Initiativen drängen zwar auf eine Veränderung, aber die Tatsache, dass sich die Seeleute im Vergleich zu den Menschen an Land oft wie Arbeitskräfte zweiter Wahl fühlen, muss von den Schiffseignern und den Interessengruppen angegangen werden.“
Die Räumlichkeiten für Besatzungen seien immer kleiner geworden, da Schiffskonstrukteure versucht haben, den Frachtraum zu maximieren. Der daraus resultierende Raum müsse höheren Standards entsprechen und der körperlichen und geistigen Gesundheit der Seeleute gerecht werden, fügte er hinzu. „Psychischer Stress steht in direktem Zusammenhang mit der Sicherheit an Bord von Schiffen, da menschliches Versagen eine der Hauptursachen für Zwischenfälle ist. Ein angemessener Landgang sei ebenfalls wichtig für das Wohlbefinden der Seeleute: „Die Welt zu sehen ist einer der Höhepunkte des Lebens auf See.“
Er möchte den jungen Männern und Frauen, die sich für die Seefahrt interessieren, immer noch die positiven Seiten dieses Berufs ans Herz legen: „Es ist eine steile Lernkurve, auf der man großartige Fähigkeiten für eine spätere Karriere erwerben kann, der Job wird teilweise recht gut bezahlt und er führt einen um die ganze Welt.“
Chopra bezeichnet seine Zeit auf See als lohnend, bereichernd und charakterbildend. Er sieht bessere Zeiten für diejenigen voraus, die sich für eine Karriere an Bord entscheiden und damit die nächste Generation von Seeleuten für das Abenteuer auf See begeistern, aber er warnte auch:
„Der Umgang mit Unwägbarkeiten und Krisen kann ein Auslöser für persönliche Entwicklungsprozesse wie emotionale Intelligenz und Selbstmanagement sein – wesentliche Eigenschaften einer effektive Führungskraft“, erklärte er. „Aufgrund der nach der Pandemie aufgestauten Nachfrage nach Waren verzeichnen die Reedereien Rekordgewinne. Ist es da wirklich unangemessen, von ihnen zu erwarten, dass sie mehr Ressourcen für das Wohlergehen ihrer Besatzung bereitstellen?“