Wer hat das „D“ in „ESG“ gesetzt?
Finanzierungen, die auf Basis der Prinzipien einer Umwelt-, Sozial- und Governance-Strategie (Environmental, Social and Governance, ESG) bereitgestellt werden, sind die Zukunft – so sagt man uns. Die Institutionen, die die Gelder zur Verfügung stellen, machen sich bereits dafür stark, indem sie diejenigen belohnen wollen, die die Vorgaben einhalten, und bereit sind, säumige Kunden zu bestrafen.
Es ist eine Botschaft, die immer lauter an die Schifffahrtsindustrie herangetragen wird, wenn auch bisher mit wenig Anerkennung außerhalb des goldenen Kreises der wichtigsten Betreiber und ihrer Kunden.
In ihrem jüngsten Bericht „The Sustainability Imperative“ befragte die Anwaltskanzlei Watson Farley Williams Vertreter aus der Branche und fand heraus, dass fast ein Drittel der Reeder angab, ESG habe „kaum Einfluss“ auf ihre Investitionsentscheidungen, obwohl es für 90 % der Geldgeber eine Rolle spielt.
In einer weiteren aktuellen Publikation beschreibt die Unternehmensberatung Arthur D Little ESG als „Game Changer“, der die Finanzdienstleistungsbranche grundlegend verändern wird, und als „eine treibende Kraft im Bankwesen, deren Auswirkungen sowohl breit als auch tiefgreifend zu spüren sein werden, und zwar in einer Weise, die alle Aspekte jedes führenden Finanzinstituts betreffen wird, von Geschäftsbereichen, Segmenten, Produkten und Dienstleistungen, Preisgestaltung, Prozessen und Daten bis hin zu Interaktionen mit Kunden undLieferanten, Vertriebsmodellen und sogar Talentmanagement.“
Wie also hat sich ESG von wenig mehr als einer Fußnote, die einst von einigen als Hype abgetan wurde, zu einem Begriff entwickelt, der eine breite Aufmerksamkeit in der Finanzwelt genießt? Der vorherrschende Katalysator ist der Klimawandel. Dieser steht mittlerweile ganz oben auf der Agenda vieler Politiker, die ihre Ambitionen in wegweisenden Abkommen (der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, dem Pariser Abkommen und dem Green Deal der EU) verankert haben.
Während die umweltpolitische Neupositionierung der USA unter Präsident Biden diesem Thema neue Glaubwürdigkeit verliehen hat, hat die COVID-19-Pandemie einen zusätzlichen Impuls gegeben: Sie hat die Aufmerksamkeit auf die Rolle und die Verantwortung von hochrangigen Organisationen innerhalb der breiteren Gesellschaft gelenkt.
Heute erkennen die großen Finanzinstitute allmählich das Potenzial von ESG, einen erheblichen Mehrwert zu schaffen, wenn die Geschäftsmodelle entsprechend umgestaltet werden. Die Autoren des Berichts sind der Meinung, es sei unvorstellbar, dass ESG und nachhaltige Finanzen jemals „wieder vom Tisch gefegt“ werden könnten. Vielmehr handele es sich um einen Megatrend, der die Wirtschaft unumkehrbar in Richtung einer neuen Normalität führen werde.
Sie warnen jedoch auch davor, dass Institutionen zwar begonnen haben, ESG und nachhaltige Finanzen intensiver zu diskutieren, dass es aber noch zu oft an Substanz oder einer eindeutigen Richtung mangelt. Es bestehe die Gefahr, dass interne oder externe Absichtserklärungen als wenig mehr als Greenwashing angesehen werden. Dennoch scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist und dass Abwarten keine Option mehr ist.
Ein Teil des Problems – zumindest in der Schifffahrt – ist das Ausmaß der Herausforderung. Der WFW-Bericht stellt fest, dass neben den organisatorischen Entscheidungen in Bezug auf Transparenz, Vielfalt und das Wohlergehen von Besatzungen (S&G) die Aufgabe zur Reduzierung von CO2-Emissionen (E) zu groß ist, als dass ein einzelnes Unternehmen oder auch nur eine Gruppe von Stakeholdern sie angehen könnte.
Es gilt, erhebliche technologische, finanzielle und regulatorische Hürden zu überwinden, bevor die Schifffahrt einen gangbaren Weg zur Erreichung des IMO-Ziels einer Senkung der Treibhausgasemissionen um 50 % bis 2050 einschlagen könne. Dabei stelle sich zudem immer wieder die Frage, wer das Risiko und die Kosten für die Entwicklung neuer Kraftstoffe und Technologien trägt.
Gegenwärtig scheinen die ESG-Ambitionen von mehreren widersprüchlichen Treibern bestimmt zu werden. Geldgeber legen mehr Wert auf Nachhaltigkeitsaspekte als die Betreiber, aber trotz ihres Engagements für Nachhaltigkeit haben traditionelle Schiffsfinanzierungsbanken nur wenig Interesse daran, neue umweltfreundliche Technologien selbst zu finanzieren – oder ihre Finanzierung durch andere zu ermöglichen.
Die Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes sollte eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Branchenakteuren vorantreiben. Die Industrie erwartet jedoch von den Regierungen, dass sie die Finanzierung der Forschung für saubere Technologien und Kraftstoffe anführen, denn die Schiffseigner scheuen sich davor, sich auf viele der neuen grünen Technologien festzulegen.
Die WFW-Umfrage ergab einen Konsens über die Notwendigkeit von Regulierung, um die ESG-Agenda voranzutreiben, ungeachtet der wachsenden Rolle von Banken, Investoren, Beschäftigten und Kunden. Regulierung kann sowohl Veränderungen erzwingen als auch die Unsicherheit begrenzen, die den Wandel hemmt, indem sie den Unternehmen ein klareres Bild davon vermittelt, was von ihnen und ihren Mitbewerbern erwartet wird.
Gleichzeitig glaubt niemand, dass die Gesetzgeber diese Aufgabe allein bewältigen können. Die Akteure über die gesamte Lieferkette hinweg müssen enger zusammenarbeiten und vielleicht auch mit neuen Stakeholdern wie Technologie-Start-ups zusammenarbeiten.
Die einzigartige Dynamik der Schifffahrt könnte jedoch den Druck, ESG umzusetzen, besonders wirksam verstärken. Die Umfrage ergab, dass viele Unternehmen mit anderen zusammenarbeiten würden, um ökologische Ziele zu erreichen. Solche Partnerschaften setzen Transparenz voraus. Und obwohl viele Reeder ihre Unabhängigkeit schätzen, könnten die finanziellen Anforderungen sauberer technologischer Modernisierungen sie durchaus dazu zwingen, sich zu konsolidieren, Eigenkapital abzugeben oder an die Börse zu gehen – Wege, die auch mit einer effektiveren Unternehmensführung, einer besseren Finanzberichterstattung und mehr Transparenz verbunden sind.
Die Ergebnisse der Umfrage deuten zwar darauf hin, dass der dringlichste Fokus auf dem „E“ liegt. Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass viele in der Branche glauben, das Streben nach Nachhaltigkeit werde zu Veränderungen in der Form, der Kapitalstruktur und der Finanzierung des Sektors führen. Deshalb wird die Schifffahrtsindustrie keine signifikanten Veränderungen herbeiführen können, ohne sich auch mit dem „S“ und dem „G“ auseinanderzusetzen.
So oder so werden sich die einzelnen Bausteine von ESG in der Schifffahrt in den kommenden Jahren gegenseitig verstärken, so das Fazit von WFW. Trotz ihres Rufs, altmodisch und resistent gegen jede Form von Veränderung zu sein, hat sich die Schifffahrt als äußerst widerstandsfähige und anpassungsfähige Branche erwiesen (und ist sicherlich in der Lage, ein weiteres Akronym zu verkraften).