Die unsichtbare Industrie?
Es gibt viele gute Dinge, die man über die Schifffahrt sagen kann: Sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Weltwirtschaft, hat die Zahl schwerer Unfälle und Leckagen reduziert und verschiebt immer wieder die Grenzen der Technologie, um nur drei Beispiele zu nennen.
Wie Insider der Branche wissen, gibt es aber auch Probleme – auf die nicht zuletzt die Pandemie ein unerfreulich helles Licht wirft, zum Beispiel auf den Wert, den manche Unternehmer und Regierungen der Arbeit beimessen. Diese Problematik beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Schifffahrt, sondern lässt auch die Politik in einem sehr schlechten Licht erscheinen, trotz der Bemühungen einiger, kurzfristige Lösungen zu finden.
Das bevorstehende Jahr verspricht nicht weniger, sondern mehr Druck auf Seeleute, denn selbst mit einem Impfstoff bleibt es in einigen Regionen schwierig und in anderen nahezu unmöglich, das Verhalten der Bevölkerung zu steuern.
Es gibt ein klares Argument dafür, Menschen aus dem gefährlichen Geschäft der Schiffssteuerung abzuziehen – oder zumindest einige von ihnen, da sowohl die Technologie als auch die Kommunikationsmöglichkeiten heute besser sind als noch vor zehn Jahren. Ob die Industrie dieses Problem und die damit einhergehenden sozialen Kosten, die eine Massenentlassung von Seeleuten mit sich bringen würde, vollständig durchdacht hat, ist fraglich. Ob es wirklich möglich ist, ist noch ein ganz anderes Thema.
Doch die Zeit läuft so oder so. Die Industrie muss eine Lösung für die Herausforderung finden, die Sicherheit von Menschen an Bord von Schiffen zu gewährleisten und ihnen gleichzeitig dieselben Menschenrechte zu gewähren, wie sie jeder andere auch hat. Das Risiko für die Industrie, dies nicht zu schaffen, ist enorm in Bezug auf mögliche Störungen und unkalkulierbar im Hinblick auf Haftungsfragen.
Im Jahr 2020 wurde deutlich, wie wenig Einfluss die Schifffahrt sowohl in der Politik als auch in den Vorstandsetagen ihrer Kunden hat. Es gibt eine offensichtliche Korrelation zwischen der Vorliebe der Schifffahrt, sich bedeckt zu halten, und ihrer Wahrnehmung durch Regierungen; es steht außer Frage, dass diese den Wert der Branche verstehen, aber die Beziehung beruht nicht gerade auf gegenseitigem Vertrauen und Bewunderung.
Es schien wahrscheinlich sinnvoll, jedem – vom Papst bis hin zu Amazon-Chef Jeff Bezos – zu schreiben, um die Regierungen zum Handeln zu bewegen. Allerdings muss man fairerweise sagen, dass keiner von beiden ähnlich betroffen war wie Seeleute, so dass die Resonanz am Ende minimal war.
Dies soll nicht die Bemühungen der Organisationen abwerten, die immer noch versuchen, etwas zu verändern; vielmehr soll es darauf hinweisen, dass die Industrie sich nun entscheiden muss, ob sie ein weiteres Jahrzehnt im Dunkeln tappen will, oder ob sie endlich den Wert ihrer Mitarbeiter schätzen lernt, anstatt immer nur deren Kosten zu sehen.
Es könnte sein, dass die Schifffahrt in den kommenden fünf bis zehn Jahren von den Ereignissen ein Stück weit überrollt wird. Die Tendenz deutet zweifellos darauf hin, dass die Industrie sich sehr schnell weiterentwickeln muss, um den Anforderungen ihrer Kunden gerecht zu werden und die an sie gestellten Ansprüche zu erfüllen.
In diesem Jahr – und zunehmend auch in den kommenden Jahren – werden Kreditnehmer von Mainstream-Finanzanbietern bei der Verfügbarkeit von Kapital mit Einschränkungen konfrontiert werden, die sich nach ihrer Umweltbilanz richten. Darüber hinaus werden sie sich vermutlich mit einer zunehmenden Flut regionaler Regulierungen konfrontiert sehen, auch wenn diese falsch konzipiert und uneinheitlich durchgesetzt werden. Das Blatt scheint sich hier gegen die Eignung globaler Standards zu wenden, etwas anderes als den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bieten – ein Niveau, das zunehmend nicht mehr ausreichen dürfte.
Viel wichtiger ist, was passiert, wenn Charterer beginnen, sich stärker für die Ereignisse in ihrer Lieferkette zu interessieren – quasi in ihrem eigenen Namen – und Transparenz in Bezug auf Sicherheit und Qualität, Umweltleistung, Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes und Arbeitsbedingungen fordern.
Das Ausmaß der Herausforderungen deutet darauf hin, dass ein komplettes Umdenken darüber erforderlich ist, wie die Branche strukturiert ist und wie viel von ihr gut genug funktioniert, um nachhaltig zu sein.
Aber auf kurze Sicht werden menschliche Faktoren die Eigentümer weiterhin beschäftigen, so wie es auch an Land der Fall ist, da wir die Bedeutung der Arbeiter, deren Arbeit wir als selbstverständlich ansehen, neu verstehen. Und es sind nicht nur die Reedereien, sondern auch ihre Endkunden und Investoren, die schneller als die Regierungen neuen Druck ausüben, um das Dilemma mit Blick auf den Wechsel von Besatzungen zu beenden.
Ende Dezember forderte eine Gruppe führender Investoren in einem Schreiben an den UN-Generalsekretär ein Ende der Krise und warnte, dass die Situation jeden Tag größere Risiken schaffe. Die Gruppe, die ein Vermögen von über zwei Billionen Dollar repräsentiert, sagte, dass es sich „nicht mehr nur um ein Problem der Schifffahrtsindustrie“ handele und nannte den Besatzungswechsel „eine humanitäre Tragödie sowie ein großes Lieferkettenrisiko für viele Unternehmen.“
„Wenn nichts getan wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwas Katastrophales passiert“, so Jenn-Hui Tan von Fidelity International. „Die Leistung einiger der Unternehmen, in die wir investieren, hängt letztlich von der Sicherheit der von den Seeleuten umgeschlagenen Ladungen ab. Sicherzustellen, dass die Rechte und Interessen der Seeleute vertreten werden, trägt dazu bei, die betrieblichen Risiken zu senken.“
In ein paar Wochen wird das Global Maritime Forum das Treffen in Davos nutzen, um die Neptun-Erklärung über das Wohlergehen von Seeleuten und den Besatzungswechsel auf den Weg zu bringen. Ziel ist es, die Anerkennung von Seeleuten als systemrelevante Arbeitskräfte zu sichern und einen frühzeitigen Zugriff auf COVID-19-Impfungen zu erreichen.
Die Mitglieder wünschen sich außerdem die Einführung von qualitativ hochwertigen Gesundheitsprotokollen und eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Schiffsbetreibern und Charterern, um Besatzungswechsel zu erleichtern und gleichzeitig die Verbindung zwischen wichtigen maritimen Drehkreuzen zu gewährleisten. Die Deklaration ist als globale Initiative gedacht, die sich auf Maßnahmen konzentriert, die den Besatzungswechsel erleichtern und die Lieferketten funktionsfähig halten, obwohl einige Akteure der Meinung sind, dass Letzteres nicht das Problem ist.
Was diese Initiativen bewirken müssen – und zwar dringend – ist, den Regierungen und der Öffentlichkeit gleichermaßen vor Augen zu führen, dass bei allem Gerede über autonome Schiffe nach wie vor die Menschen das wertvollste Gut der Schifffahrt sind.
Und da letztlich Menschen und nicht Algorithmen entscheiden werden, ob der Fall mit genügend Nachdruck vorgetragen wurde, könnte dies ein wichtiger Test dafür sein, was die Branche in den vergangenen zwölf schlimmen Monaten gelernt hat.